Medizinische Wissenschaft im Nationalsozialismus und Erinnerungskultur

Medizinische Wissenschaft im Nationalsozialismus und Erinnerungskultur

Organisatoren
Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.06.2023 - 10.06.2023
Von
Lydia Stötzer, Projekt GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung, Charité Universitätsmedizin Berlin; Lea Münch, Fachbereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Irit Kulzk (Förderkreis Gedenkort T4 e.V.) und Thomas Beddies (GeDenkOrt.Charité) begrüßten die Teilnehmer:innen der Tagung zum 40-jährigen Jubiläum des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation.

THOMAS BEDDIES (Berlin) gab einführend einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Rolle der Charité und der Berliner Medizinischen Fakultät im Nationalsozialismus und stellte das Projekt „GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung“ vor. Zu dem Projekt gehören die im November 2017 eröffnete Ausstellung „Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin“ in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und der interaktive Erinnerungsweg „Remember“ auf dem Charité-Campus Mitte, der im Mai 2018 mit sechs Stelen eingeweiht und 2021 um zwei weitere ergänzt wurde.1 Im Gegensatz zum Remember-Erinnerungsweg, dessen Inhalte auch online abrufbar sind, war die Ausstellung aufgrund der Zugangsbeschränkungen zum Krankenhausgelände während der Corona-Pandemie lange Zeit nur eingeschränkt nutzbar. Das Projektteam entschied sich deshalb dafür, die Ausstellungsinhalte auch digital zur Verfügung zu stellen.

LYDIA STÖTZER (Berlin) präsentierte die nun fertiggestellten neuen digitalen Angebote, die im Rahmen des Förderprogramms „Neustart Kultur“ aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien entstanden sind.2 Neben der Ausstellung wurden auch digital abrufbare Inhalte zu bisher nicht oder nur eingeschränkt zugänglichen Orten auf dem Charité-Campus Mitte erarbeitet. Dazu zählen der „Sauerbruch-Bunker“, die Gedenkinstallationen und (teil-)öffentlichen Sammlungen im Anatomischen Institut sowie der „Strahlenhörsaal“. Die Tagungsteilnehmer:innen konnten im Anschluss die Ausstellung, den Erinnerungsweg und die anderen vorgestellten Orte besichtigen. Mit dem Besuch des 1961 verschlossenen und bis heute leerstehenden „Strahlenhörsaals“ wurde auch ein Stück DDR-Geschichte thematisiert; dabei wurden die Pläne zur inhaltlichen Erweiterung der Arbeit des GeDenkOrt.Charité vorgestellt.

HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH (Berlin) resümierte und problematisierte anhand ausgewählter Beispiele die bisher verwendeten Kategorien zur Einordung von Handlungsmöglichkeiten von Wissenschaftler:innen im Nationalsozialismus. Er legte methodische Anregungen für künftige Analysen dar und rückte jenseits klassischer Netzwerktheorien die Interaktion der Mitglieder eines wissenschaftlichen Kreises in den Mittelpunkt. Eine Gruppe wird dabei durch eine gemeinsame Intention wie beispielsweise die Forschung an ermordeten psychiatrischen Patient:innen konstituiert. Trotz unterschiedlicher Handlungen ist eine zusätzliche Verortung der einzelnen Akteure ausgehend von der Gesamtbewertung der Gruppe möglich. Der Fokus auf die intentionale Gemeinsamkeit der Gruppe erlaubt es, differenziert von vernetzter Schuld und vernetzter Täterschaft zu sprechen.

Der Beginn des zweiten Tagungstages stand mit dem Programmpunkt „Neues aus dem Arbeitskreis“ im Zeichen des gegenseitigen Austausches. Anschließend präsentierten die Referent:innen in einer von zwei parallel durchgeführten Vortragssektionen neue Forschungsergebnisse zur „Aktion T4“.

UWE KAMINSKY und FRUZSINA MÜLLER (Berlin) skizzierten den Werdegang des Arztes Herbert Becker, der als Leiter der Planungsabteilung der Reichsarbeitsgemeinschaft der Heil- und Pflegeanstalten eine wichtige Funktion in der „Euthanasie“ innehatte. Er war für die Planungsfahrten in die Regionen zuständig, mit denen eine reichsweite Kontrolle über die durch die „T4“-Morde freigewordenen Anstalten zurückerlangt werden sollte. In der Nachkriegszeit arbeitete Becker als niedergelassener Arzt in Leipzig, wahrte politische Distanz zur DDR und konnte außer einem für ihn folgenlosen Besuch der Staatssicherheit unbehelligt in der DDR leben. Becker wurde als weniger ideologisch motivierter Täter charakterisiert, dessen Bekanntschaft mit NS-Größen wie Paul Nitsche ausschlaggebend für seine Funktion war.

KATHRIN JANZEN (Wien) und ROBERT PARZER (Berlin) stellten ein Fotoalbum ungeklärter Provenienz vor, das die ersten bekannten Fotos des Personals der Kanzlei des Führers (KdF) enthält und vermutlich in der ersten Jahreshälfte 1942 als Abschiedsgeschenk für Viktor Brack entstanden ist. Insgesamt sind dort 41 Personen abgebildet, die bislang nur zu einem Teil identifiziert und in das Organigramm der Kanzlei eingeordnet werden konnten. Der außergewöhnliche Fund ermöglicht einen Einblick in den Alltag der KdF und illustriert das Selbstverständnis der dort arbeitenden Personen als moderne Elite und „Macher“. Eine Publikation der im Kontext der Visual History noch weiter zu analysierenden Quelle ist geplant.

PHILIPP RAUH (München) zeichnete ein umfassendes Bild der Karriere des „T4“-Obergutachters Werner Heyde, dessen universitärer Werdegang eng mit der „Aktion T4“ verflochten war. Heydes Forschungsschwerpunkt lag in der psychiatrischen Begutachtung, und er stellte sein rassenideologisches Potential beispielsweise auch bei der Begutachtung von KZ-Häftlingen zur Zwangssterilisation unter Beweis. Als ein bei Parteidienststellen hoch geschätzter Gutachter erfüllte Heyde auf vortreffliche Art das Profil für die medizinische Leitung der „Aktion T4“. Die Liquidierung des polnischen Zwangsarbeiters Andrzej Rostecki unter seiner Ägide charakterisiert ihn als einen skrupellosen, zu allem entschlossenen Medizintäter.

In der zweiten Vortragssektion präsentierten die Referent:innen schwerpunktmäßig neue Forschungsergebnisse zur Erforschung und Identifikation menschlicher Überreste aus dem Kontext nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und stellten ihre Arbeit zum Aufbau von Erinnerungsorten vor.

Nach dem Fund von Hirnpräparaten in Archiven der Max-Planck-Gesellschaft initiierte diese 2017 ein Forschungsprojekt zur Klärung der Frage, ob die Präparate von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ oder von natürlich verstorbenen Personen stammen. Ziel des Projekts ist es auch, die Identität der Personen und die Herkunftsanstalten zu rekonstruieren. AXEL HÜNTELMANN (Berlin) beschrieb die schwierige Quellenlage, die u.a. aus der unzureichenden dokumentarischen Sorgfalt in den historischen Quellen („messiness of science“) resultiert. Unterschiedlich geschriebene und unvollständige Namensangaben, Zahlendreher, verschiedene Nummernserien, Doppelungen sowie Auslassungen und Korrekturen verhindern zum Teil eine eindeutige Identifikation. Die ermittelten biografischen Daten werden in einer Datenbank zusammengeführt. Von den ca. 2.200 identifizierten Personen, deren Gehirne oder Hirnpräparate im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung untersucht wurden, waren ca. 900 im Rahmen der „Aktion T4“, der dezentralen „Euthanasie“ oder der „Kindereuthanasie“ ermordet worden.

BENIGNA SCHÖNHAGEN (Tübingen) stellte die Arbeit des Forschungsprojekts Gräberfeld X vor, das sich der Erforschung der auf dem Anatomiegräberfeld des Tübinger Stadtfriedhofs bestatteten Opfer aus der NS-Zeit widmet. Auch hier verfolgt das Projektteam das Ziel, die Identität der Opfer zu rekonstruieren und eine Personendatenbank aufzubauen.3 Die Leichenbücher der Anatomie sind dafür die zentrale Quelle. Die Zuordnung ist auch in diesem Fall nicht immer eindeutig; exakte quantitative Angaben sind schwer zu ermitteln. Schönhagen problematisierte am Beispiel der verschiedenen Gruppen den Begriff „NS-Opfer“. Die im Jargon der Anatomen als „Sozialleichen“ bezeichneten Personen waren beispielsweise Opfer einer zwangsbasierten Leichenbeschaffungspraxis, können aber, so Schönhagen, nicht im klassischen Sinne als NS-Opfer bezeichnet werden. Der Verbleib der Sammlung des in Berlin tätigen Pathologen Berthold Ostertag ist weiterhin ungeklärt.

MANUELA BAUCHE (Berlin) stellte das Projekt „Geschichte der Ihnestr. 22“ vor, das nach dem Fund menschlicher Knochen auf dem Gelände der Freien Universität Berlin in der Nähe des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik installiert wurde und in dessen Rahmen aktuell ein Erinnerungsort mit Ausstellungen im Innen- und Außenbereich und eine Website erarbeitet werden. Für das Ausstellungsnarrativ wird die vorhandene, meist wissenschaftshistorisch orientierte Forschung mit eigener Forschungstätigkeit zur Geschichte des Ortes und der Opfer ergänzt. Im Ergebnis sollen vier Kernbotschaften vermittelt werden: Die Geschichte des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik eignet sich zur Diskussion des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik und des steten Potentials ethischer Grenzüberschreitungen (1). Sie illustriert die Rolle der Wissenschaft bei der Produktion rassistischen und entmenschlichenden Wissens (2), bei der Produktion unterschiedlicher Unrechtsregime und verdeutlicht die Verflechtungen von Rassismus, Antisemitismus und Ableismus (3). Die Institutsgeschichte zeigt weiterhin die Vorläufer und ideellen und personellen Kontinuitäten hinter eugenischem Denken und Vorstellungen von menschlicher Ungleichwertigkeit (4). Danach gab es die Gelegenheit zum geführten Besuch der von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas betreuten Gedenkorte.

DMYTRO TYTARENKO (z. Zt. Heidelberg) thematisierte die Besonderheiten des kollektiven Gedenkens in der Ukraine, wobei ermordete Psychiatriepatient:innen ohne explizite Nennung als eigenständige Opfergruppe bis in die 1970er-Jahre hinein lediglich in den allgemeinen Gedenkdiskurs einbezogen wurden. Symptomatisch hierfür ist das Denkmal am Krankenhaus Poltawa, das 1998 für die „Opfer des Faschismus“ errichtet wurde. Als Ursachen nannte Tytarenko u.a. das Fehlen einer gemeinsamen Identität der Opfer, einen Mangel an öffentlicher Initiative und die Vernichtung von Krankenhausarchiven. Der gegenwärtige Angriffskrieg Russlands führe unter der Devise „Neue Opfer – neue Helden“ zu einer weiteren Abkehr von der gemeinsamen Geschichte der Sowjetunion.

THOMAS KÜNNEKE (Berlin) führte in das Tagungsthema in Einfacher Sprache ein. Nach einer gemeinsamen Vorstellungsrunde erklärte er, was der Arbeitskreis für eine Institution ist und wer sich dort zusammenfindet. Im Anschluss fasste er die Vorträge des Tages in Einfacher Sprache zusammen und fragte nach der Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Erinnerungsarbeit. Als positives Beispiel hob er die Arbeit der Gedenkstätte Brandenburg an der Havel hervor, wo Menschen mit Lernschwierigkeiten Führungen in Leichter Sprache anbieten. Künneke betonte die Bedeutung der Perspektiven und Zugänge von denjenigen Menschen, die auf das Thema mit einer „anderen Form der Betroffenheit“ blicken. Der Förderkreis Gedenkort T4 e.V. unterstützt die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an der Erinnerungsarbeit, insbesondere derer ohne wissenschaftlichen Hintergrund.

Nach den Vorträgen folgte die Aufführung des Theaterstücks „,(Un) Wertes Leben'. Ein Stück über Euthanasie" der Theatergruppe „Die Oppelner“, Prowo Berlin gGmbH. Das Stück ist einer der Beiträge für das Inklusive Erwachsenen-Theater beim diesjährigen Theater-Wettbewerb „andersartig gedenken on stage“. STANA SCHENCK (Berlin) stellte einführend den bundesweiten Wettbewerb zu Biografien der Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen vor, der als Tochterprojekt der Website gedenkort-t4.eu entstanden ist. (Junge) Menschen mit und ohne Behinderung stehen bei den Wettbewerbsbeiträgen gemeinsam auf der Bühne und nutzen den Ort zur Darstellung ihrer eigenen Sicht auf die Geschichte. UWE BROHL-ZUBERT (Berlin), Referent für Soziale Psychiatrie / Queere Lebensweisen, begrüßte vorab im Namen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

Beim anschließenden Festakt gratulierten die Grußwortredner:innen dem Arbeitskreis zu seinem 40-jährigen Jubiläum und dankten für sein Engagement in der Sichtbarmachung der lange vergessenen Gruppe der NS-„Euthanasie“-Opfer. CLAUDIA ROTH, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, betonte unter Verweis auf das vorherige Theaterstück den Beitrag von Kunst und Kultur zur Erinnerung und ging auf die vom Bundesministerium für Kultur und Medien unterstützen Projekte und Gedenkorte mit „T4“-Bezug ein. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, JÜRGEN DUSEL, plädierte für eine möglichst inklusive Erinnerungskultur und warb dafür, unter direkter Ansprache von Frau Roth, dass der Erinnerungsort Alt-Rehse mehr Bedeutung und finanzielle Ausstattung bekommt. FELIX KLEIN, der Beauftragte für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, würdigte die Arbeit des Arbeitskreises bei der Sichtbarmachung der Verbindungslinien zwischen der Shoah und den „T4“-Verbrechen und schloss sich seinem Vorredner mit der Forderung nach einem nationalen Gedenkort Alt-Rehse an. Mit Blick auf eine Studie der Universität Aachen zu Wissenslücken bei heutigen Medizinstudierenden forderte er außerdem, die Geschichte der NS-Medizin als Prüfungsfach zu etablieren und dementsprechend die ärztliche Approbationsordnung zu ändern. SUSANNE MICHL, Prodekanin für Studium und Lehre, gratulierte im Namen der Charité und dankte dem Arbeitskreis für seine unermüdliche Arbeit bei der Verständigung über Prinzipien ethischen Handelns in der Medizin. Sie verwies darauf, dass die Geschichte der NS-Medizin fest im medizinischen Curriculum verankert ist. UWE NEUMÄRKER, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, betonte zum Abschluss, dass die Opfer der NS-„Euthanasie“ verdrängt und verschwiegen wurden und lange keine Lobby hatten. Er stellte außerdem den Bezug zum geplanten Denkmal zur Erinnerung an die polnischen Opfer im Zweiten Weltkrieg her und ging auf die Tätigkeit des „T4“-Personals im besetzten Polen ein.

MICHAEL WUNDER (Hamburg) blickte in seinem Festvortrag auf die Anfänge des Arbeitskreises zurück, der als „historiographische Selbsthilfegruppe“ das Ziel hat, sich in „radikaler Selbstbefragung“ mit den NS-Verbrechen in der Psychiatrie auseinanderzusetzen. Der Arbeitskreis markierte eine Gegenbewegung zum „aktiven Beschweigen“ des Themas, das auch in der universitären Forschung viel zu lange vernachlässigt wurde. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen „Barfußhistoriker:innen“ und professionellen Historiker:innen, die lokalgeschichtliche Aufarbeitung und Einzeldarstellungen mit einer gesamtgeschichtlichen Einordnung verbindet. Der Arbeitskreis hat immer aus historischer Perspektive zu gegenwärtigen Fragen Stellung bezogen, so zuletzt in der Debatte zum assistierten Suizid. Diese wichtige Funktion wird er auch in Zukunft wahrnehmen, betonte Wunder. Er hob hervor, dass das Bekenntnis zur Inklusion eine der wichtigsten Schlussfolgerungen aus der Geschichte sei. Inklusion definierte er in Anlehnung an Theodor W. Adorno als Anerkennung des Andersseins und als „Miteinander der verschiedenen“, die einander brauchen und respektieren.

In der Sektion zu medizinethischen Fragen am Lebensende befassten sich Michael Wunder und Susanne Michl mit der aktuellen Debatte über die gesetzliche Regelung der Suizidassistenz. Maike Lyall stellte die Belastungen auf den Intensivstationen aus Sicht der Pflege dar und ging auf Fragen der Therapiebegrenzung und -zieländerung ein. Gegen die aktuelle Forderung nach „ärztlicher Sterbehilfe“ argumentierte Wunder, die Geschichte zeige, dass die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit instabil sei und sich die Forderung schnell auf Menschen ausweite, die das „Verlangen nach Erlösung“ selbst nicht mehr äußern könnten. Selbst eine gesetzliche Engführung biete keinen ausreichenden Schutz für vulnerable Gruppen. Jede gesetzliche Regelung schaffe hingegen eine gesellschaftliche Normalität und Akzeptanz der Suizidassistenz. Vor dem realpolitischen Dilemma, dass inzwischen eine Gesetzgebung unabwendbar ist, plädierte Wunder für die restriktivste Lösung in Form eines Verbotsgesetzes mit Ausnahmen (Castellucci-Entwurf).

SUSANNE MICHL (Berlin) legte dar, wie die gegenwärtige Entwicklung das pflegerische und ärztliche Personal in Krankenhäusern und anderen Versorgungseinrichtungen zunehmend mit Suizidwünschen seitens der Patient:innen konfrontieren wird. Dies evoziert die grundlegende Frage nach der ärztlichen Aufgabe beim assistierten Suizid. Michl beleuchtete die Frage, ob es einen Versorgungsanspruch – ein Recht auf Suizidassistenz – gibt, der in einem Spannungsfeld zum individuellen Gewissensvorbehalt des Personals steht. Diese Situation erfordere institutionelle Antworten – auch von der Charité.

MAIKE LYALL (Berlin) berichtete von der Erfahrung des moralischen Stresses („moral distress“) unter Pflegenden, der auftritt, wenn äußere, strukturelle Vorgaben oder Entscheidungen mit den eigenen moralischen Vorstellungen konfligieren. Um diese im Klinikalltag oft marginalisierte Perspektive der Pflegenden zu stärken, hat sie gemeinsam mit dem klinischen Ethikkomitee eine „Ethikvisite“ an der Charité initiiert. In wöchentlich stattfindenden Gesprächen zwischen Mitarbeitenden jeder Berufsgruppe unter externer Moderation erfolgt eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Ziel einer optimierten Patientenversorgung. Dieses Instrument der präventiven Ethik trägt auch zur Reduktion von „moral distress“ bei.

In der letzten Vortragssektion stellte BENJAMIN KUNTZ (Berlin) den vom Museum im Robert Koch-Institut (RKI) erarbeiteten und 2021 veröffentlichten Podcast „Erinnerungszeichen“ vor. In monatlich erscheinenden Folgen wurden zwölf Biografien von 1933 entlassenen und verfolgten jüdischen Mitarbeitenden besprochen. Anhand der Datierung einiger Entlassungsbriefe verdeutlichte Kuntz, wie auch die Entlassungspraxis am RKI vielfach vom vorauseilenden Gehorsam vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums geprägt war. Er schilderte die Lebenswege und Exilgeschichten nach 1933 und seine persönlichen Erfahrungen im Austausch mit den Familien.

MARION HULVERSCHEIDT (Kassel) skizzierte den Werdegang des deutschen Tropenarztes Friedrich Karl Kleine (1869-1951) vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus. Seine Forschungsreisen auf den afrikanischen Kontinent setzte er auch nach 1933, als Präsident des Robert Koch-Instituts, fort. Hulverscheidt fragte nach seiner Haltung zum NS-Regime und seinem Verständnis der Kategorie „deutsch“. Letzteres bedeutete für ihn vor allem, „nicht-britisch“ zu sein. Seine Haltung beschrieb Hulverscheidt als national und imperial, pflichtbewusst, arbeitseifrig und offen für veränderte Ansichten. Er zeigte sich nicht offen antisemitisch und soll, so Hulverscheidt, fürsorglich gegenüber seinen Mitarbeitenden aufgetreten sein. Ergebnisse zu seiner Haltung zur NS-„Euthanasie“, zum Holocaust oder auch zur Apartheid stehen noch aus.

Konferenzübersicht:

Heinz-Peter Schmiedebach (Berlin): Parteigänger, Kollaborateure, Abtrünnige – Anmerkungen zu Handlungsmöglichkeiten von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus

Uwe Kaminsky (Berlin) und Fruzsina Müller (Berlin): Unter dem Radar – Herbert Becker, Arzt und „Euthanasietäter“

Kathrin Janzen (Wien) und Robert Parzer (Berlin): Ein Fotoalbum für Viktor Brack – Täter und Täterinnen der NS-„Euthanasie“-Verbrechen und der Büroalltag in der Kanzlei des Führers

Philipp Rauh (München): „Als Dr. Sawade noch Werner Heyde war“ – Anmerkungen zu einem Weltanschauungstäter

Axel Hüntelmann (Berlin): Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten

Benigna Schönhagen (Tübingen): Das Tübinger Anatomiegräberfeld in der NS-Zeit und die Suche nach der Sammlung Ostertag

Manuela Bauche (Berlin): Über Wissenschaft und Verbrechen erzählen. Der „Erinnerungsort Ihnestraße“ und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik

Dmytro Tytarenko (z.Zt. Heidelberg): Das Schicksal der Psychiatriepatienten in der Ukraine während der NS-Besatzung im historischen Gedächtnis

Thomas Künneke (Berlin): Einführung in das Tagungsthema in Einfacher Sprache

Stana Schenck (Berlin): Einführung zu „andersartig-gedenken-on-stage“

Michael Wunder (Hamburg): Festvortrag

Michael Wunder (Hamburg): Zum Freiheitsversprechen in der Debatte um die Suizidassistenz

Susanne Michl (Berlin): Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid: Herausforderungen für die Krankenhäuser

Maike Lyall (Berlin): Erfahrungsbericht einer Intensivpflegekraft

Benjamin Kuntz (Berlin): „Erinnerungszeichen“. Ein Podcast über die im Jahr 1933 entlassenen jüdischen Mitarbeitenden des RKI

Marion Hulverscheidt (Kassel): Annäherung an Friedrich Karl Kleine (1869-1951) – ein deutscher Tropenarzt vom Kolonialismus bis in den NS

Anmerkungen:
1https://remember.charite.de (24.10.2023)
2https://medizingeschichte-charite-mitte.de.
3https://graeberfeldx.de/.